Stadtteilzeitung Hildesheim West
Nr. 179 · Dezember 2007
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Siedlung Birnbaumskamp

„Brauchst Dir um uns keine Sorge machen”

(sbr) Vor 85 Jahren, im Winter 1922/23, bezogen die ersten Siedler den Birnbaumskamp hinter der Waldquelle. Packend beschreiben Briefe aus den Kriegsjahren, wie die großen Gärten der Siedlung – besonders in der mageren Zeit – den Siedlerfamilien zu überleben halfen. Wilhelm Brand, einer der „Ursiedler”, war 60 Jahre alt, als er im Herbst 1946 den folgenden Brief an seinen Sohn Rudolf in britischer Kriegsgefangenenschaft schrieb. Mit Humor karikiert er die Not, die Enge – drei ausgebombte Töchter hatten mit ihren Familien am Birnbaumskamp Unterschlupf gefunden – und die harte Arbeit jener Jahre. – Wenige Wochen später schrieb Wilhelm Brand einen Weihnachtsbrief, in dem der Humor der Trauer und dem Bedauern gewichen war, seinen Enkelkindern kein üppiges Weihnachtsfest bieten zu können.

Foto: Privatbesitz
Am Birnbaumskamp Mitte der dreißiger Jahre, links Wilhelm Brand und seine Frau Anna


Hildesheim, den 19. Oktober 1946

Mein lieber Junge!

Deinen Brief … haben wir gestern erhalten und darin war die Frage enthalten, ob ich krank sei. Nein, mein lieber Rudi, krank bin ich Gott sei Dank nicht. Im Gegenteil, gesundheitlich geht es mir jetzt ganz gut. Ich hatte früher, wie Du wohl noch weisst, viel unter Kopfschmerzen zu leiden und die sind jetzt vollständig verschwunden, Kopfschmerzpulver kenne ich garnicht mehr und auch mein sonstiges Befinden ist sehr gut. Wir leben jetzt ja auch ganz nach unserer Gesundheit und zwar bekommen wir jetzt Kalorien zu essen, und da wir … täglich 1550 von diesen sagenhaften Dingern bekommen, kannst Du Dir den Erfolg denken. Fleisch wird jetzt klein geschrieben und Fett schwimmt ja immer oben. Doch halt – demnächst haben wir Ueberfluss davon. Mama holt täglich von dem schönen Rottsberg Öl und Margarine. Du wirst Dich wundern, aber es ist Tatsache. Von den schönen Buchen fallen die Bucheckern ab. Diese Bucheckern werden gegen Öl und Margarine eingetauscht. Wir haben sogar … schon mal von unseren neuen dicken Kartoffeln richtiggehenden Puffer gebacken und das ist ein ganz seltenes Essen.

Die Tabakfrage habe ich … auch gelöst. Ich bin darin Selbstversorger. 150 Pflanzen hatte ich dieses Jahr und ich habe jetzt die angenehme Nebenbeschäftigung, trockne den Tabak, er wird gut gebeizt und dann ergibt sich eine gute Marke „Siedlerstolz”. Er hat noch einen herben Geschmack und soll auch nicht gut riechen. Aber wie ich Dir eben schrieb, muss er gut sein, denn mein Gesundheitszustand hat noch nicht darunter gelitten. Im Gegenteil, die Kopfschmerzen sind weg. – Solltest Du bald kommen, so bringe Dir zum wenigsten eine Pfeife mit, damit Du mitrauchen kannst, denn Piepen gibt es hier nicht. Wir pfeifen sowieso schon auf dem letzten Loche.

Was nicht weniger geworden ist, ist die Arbeit. Unsere Dienststelle ist von dem ausgeräucherten Rathaus nach der Baugewerkschule Hohnsen verlegt. Da bringe ich die meiste Zeit des Tages zu. Die Freizeit ist ausgefüllt, soweit es die Jahreszeit zulässt, mit allerhand häuslichen Arbeiten. Augenblicklich trete ich … als Bauherr auf. Ich baue jetzt wieder und zwar einen Schuppen, anstelle des von Dir seiner Zeit errichteten Holzschuppens. Man muss zwar Geduld haben, denn Steine und Sand habe ich schon, auch Fensterscheiben und das Dach kann ich wohl zusammenbringen, aber mir fehlt vorläufig jedes Bindemittel, Zement, Zementkalk. Da muss ich erst warten, bis ich von diesem Material etwas erstehen kann. Solltest Du Dich mit Deiner Heimkunft beeilen können, so kannst Du noch helfen, indem Du die Fensterrahmen und Türen anfertigst. …

Im Garten sieht es augenblicklich herbstlich aus. Kartoffeln und Gemüse haben wir geerntet und sind sehr zufrieden damit. Ich lege mehr Wert auf diese Kartoffeln und das Gemüse, als auf die obengenannten sagenhaften Kalorien. Arbeit auch im Garten ist für Dich später ausreichend vorhanden, denn bei meiner kurzen Freizeit schaffe ich es kaum und zur Zeit ist der Garten in einem nicht gerade ordentlichen Zustand. Ich hoffe an Dir später eine kräftige Hilfe zu bekommen, denn die übrigen Familienmitglieder haben wenig Zeit für diese wunderbare Erholungsarbeit. Ich bin dabei, unsere Obstbaumbestände aufzufrischen und hoffe, da Du schon alle Berufe jetzt durch hast, dass Du Dich später hier auch noch als Gärtner betätigst, denn mit der Zeit wird diese Arbeit für den alten Opa doch etwas schwer und manchmal geht der Atem etwas kürzer, noch dazu, wenn man Tabak, Marke „Siedlerstolz” dazu raucht.

Unser häusliches Leben spielt sich immer noch in anregender Weise ab, wie wir es nicht in Eurer Jugendzeit hatten. Im Erdgeschoss ist den ganzen Tag über schwerer Betrieb und da hat Mama den Oberbefehl, denn da wird für den ganzen Verein gekocht und es geht dort, wie Du Dir denken kannst, immer lebhaft zu, denn die Kalorien müssen doch ordentlich zubereitet werden, damit jeder zu seinem Recht kommt. Ich ziehe es vor, in der Stube zu sitzen, da ich schon etwas ruhiger bin, doch halt nur zeitweise, denn da gibt es eine Ingrid, eine Christa, eine Ilse und einen Klaus, die den Opa unterhalten müssen. Eine Treppe höher wird in Kunstgewerbe gemacht und es herrscht ein starker Geschäftsverkehr. Da kannst Du schöne Bilder und allerlei andere schöne Sachen sehen. Aber für Kunst und dergleichen wird bei einer Währungsänderung nicht viel überbleiben und es wird als guter Handwerker wohl besser sein. Oben hausst nun Käte in der kleinen Puppenwohnung und die kleinen Püppchen sorgen auch da kräftig für Unterhaltung. … Wenn du kommst, wirst auch Du keine Langeweile haben, dafür wird das junge Gemüse schon sorgen. …

Mama hat unter diesen Verhältnissen … immer am meisten zu leiden und zu tragen und wir zwei Alten haben ja auch nichts mehr von der Zukunft zu erwarten. Mit der erträumten Ruhe und Beschaulichkeit ist es gründlich Essig. Aber das macht nichts. Wir wollen uns schon verständigen und einrichten.

Nun lass es Dir weiter gut gehen und hoffentlich kommst Du doch bald um Meyers Ecke.

Herzliche Grüsse von allen Vereinsmitgliedern und herzlichen Gruss aus der Heimat. Wenn sie auch ausgeräuchert ist, so ist und bleibt sie doch die alte Heimat.

Herzliche Grüße von Deiner Mutter und Deinem Vater

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