20 Jahre Moritz vom Berge
Themenwechsel
(sbr) Blättert man die 202 Ausgaben des Moritz vom Berge durch, spiegelt sich die stürmische Entwicklung auf dem Berge wider: 20 Jahre Moritzberger Geschichte.
„Im Westen was Neues“ war die erste Schlagzeile am 1. März 1990. Nach der Ausstellung „Stiftsfreiheit und Bergdorf“ im Hildesheimer Museum und nach dem Kampf um das „Moritzberger Bäcker-Amtshaus“ (den Vorläufer des Penny-Marktes) nehmen die Engagierten auf dem Berge auch die Pressearbeit selbst in die Hand - Eigenständigkeit ist das Motto der Stunde.
Gleich in der ersten Ausgabe sind die langjährigen Begleiter des „Moritz“ präsent: Walter Pinkepank mit seinen plattdeutschen Geschichten in „Dütt un dat up Platt“ und Jutta Finke mit Tipps für Wanderungen im „Moritzberger Wanderstab“. Im Juni 1990 zeigt sich das Dauerthema der bürgerbewegten 1990er Jahre: Die zweite Moritzberger Demonstration zur Verkehrsberuhigung hat stattgefunden. Im Juli das zweite große Anliegen: „Alte Bäume auf dem Moritzberg bedroht!“. Im November folgt der erste Schritt vom Protestieren zum selbstständigen Gestalten auf dem Berge: Eine Anwohner-Arbeitsgruppe macht Pläne für den (Park-)Platz vor der Gelben Schule. Man möchte dort einen öffentlichen Raum schaffen, wo man sich trifft und zusammen feiert. Deshalb werden die Autos von diesem Platz verbannt.
1991 ist wieder ein Jahr des „Häuserkampfs“: Am Ende der Bennostraße sollen Villen entstehen. Der jüdische Friedhof wird unter Denkmalschutz gestellt - fast wäre er straßenerweiterungen für die Neubauten zum Opfer gefallen. Im Juli 1991 eine hoch brisante Entdeckung - ihre Bewältigung ist auch 19 Jahre später noch nicht gelungen: „Sportplatz Pappelallee dioxinverseucht“. Ein Jahr später werden 200 Flüchtlinge aus Südosteuropa in der Sporthalle untergebracht.
Der „Häuserkampf“ im engen Verbund mit dem „Baumschutz“ zieht sich als roter Faden durch die 1990er Jahre: Im Berghölzchen soll ein großes Hotel gebaut werden, auf der „Zirkuswiese“ an der Waldorfschule sind Wohnstift und Supermarkt-Neubau geplant. Der lockeren Bauweise im Godehardikamp droht Verdichtung. Solide fundamentieren die Artikel im „Moritz“ die Basis der Bürgerinitiativen-Arbeit gegen diese Pläne: Die Fachtexte zur Geschichte des Moritzberges und die Geschichten aus der Geschichte („So war es damals auf dem Berge“) sind fester Bestandteil der kleinen Zeitung geworden. In regelmäßigen kulturellen Veranstaltungen (Bergfest!) gelingt es den Moritzbergern, „Lokalpatriotismus“ und stürmische Protesthaltung miteinander zu verbinden. „Der Schritt von der Prozession zur Demonstration fällt uns nicht schwer“, spottet das Moritz-Team zum fünfjährigen Bestehen über alle Versuche, das Moritzberger Blatt in eine ideologische Schublade zu packen.
Im Mai 1996 wird eine Chance verpasst, ein „Griff nach den Sternen“ - was sich später rächt: Die Geschäftsleute wünschen sich die Dingworthstraße als Fußgängerzone, die alten Fronten hinsichtlich dem Nutzen des Durchgangsverkehrs haben sich aufgelöst. Die Geschäftsstraße wird aber nicht einmal verkehrsberuhigt - angeblich ist der Busverkehr daran schuld.
Seit dem Winter 1994/95 geht es verstärkt um die Gestaltung oben auf dem Berge: Im Sommer 1996 wird der neue Entenbrunnen im Bergholz in Eigeninitiative gebaut und mit dem ersten Brunnenfest gefeiert. Ein halbes Jahr später laufen die Anwohner Sturm gegen die Absicht des Oberbürgermeisters, dort die Bäume und Büsche fällen zu lassen. Auch das Berghölzchen muss wieder einmal verteidigt werden: Die erste Durchforstung des Waldes droht empfindliche Lücken zu schlagen. Im Sommer 1998 wird mit dem zweiten Brunnenfest der Bergbrunnen an der Bergstraße eingeweiht.
Danach nähert die bewegte Bürgerinitiativen-Zeit sich dem Ende. Die erfrischende Haltung der Anwohner und der befreundeten Handwerker vom Berge - „Wir machen das selbst“ - weicht dem Expertentum. Für diejenigen, die noch etwas bewegen wollen, wächst der bürokratische Aufwand enorm. Im zweijährigen „Mauerbrocken“-Projekt des Kulturvereins werden in Zusammenarbeit mit Steinmetz Prenzler, mit dem Arbeitsamt und den Grundstückseigentümern rund 300.000 Mark in sanierungsbedürftige Moritzberger Mauern gesteckt. 1999 ist das Portal der Villa Windthorst restauriert und die seit 20 Jahren zerstörte Mauer daneben wieder aufgebaut.
Experten mit langem Atem haben sich auch anderswo gefunden: Das Trillke-Gut wird Anfang 2000 nach mehrjähriger Vermietung an Studenten von den Bewohnern selbst gekauft. In den Folgejahren entwickelt es sich zu einem Schwerpunkt des Moritzberger Kulturlebens - ein Reservoire von kreativen Fähigkeiten auch für Moritz vom Berge. Seit September 1999 wird „Moritz“ dort für den Drucker gesetzt und layoutet. Ein weiteres Potential, bis heute nicht für die Nutzung erschlossen, wird im Jahr 2000 im Moritzberger Untergrund erforscht: Der Felsenkeller unter der Kindertagesstätte Zierenbergstraße wird unter Denkmalschutz gestellt.
Mit der Jahrtausendwende setzt sich ein Themenwechsel durch: „Häuserkampf“ und „Baumschutz“ versetzen die Nachbarschaften nicht mehr in Bewegung, „Verkehrsberuhigung“ ist zum Arbeitsgebiet der berufsmäßigen Planer geworden. Auch Bürgerbeteiligung gehört jetzt zu den gesetzlich vorgeschriebenen Verfahren bei größeren Projekten. Durch die bürokratische Regelung wird sie zur Formsache - spontan engagierte Bürger finden sich darin oft nicht wieder oder ziehen sich überfordert zurück. Der Rückzug ins Privatleben ist im Trend - und mancher Moritzberger ist verbittert über die Veränderungen auf dem Berge, über die Schließung der „Baulücken“. Moritzberg ist vom „Dorf“ zum Stadtrandbezirk geworden.
Das große Thema des ersten Jahrzehnts im zweiten Jahrtausend bahnt sich an: Im Juli 2000 schlägt „Moritz“ „Alarm für die Dingworthstraße“ - der Kommentar zur geplanten Schließung von Post und Stadtsparkasse lautet: „Demontage gewachsener Strukturen“. In der Initiative „Wir vom Berge“ sind sich Politiker und Bürger mit den Planern einig, das etwas getan werden muss - aber wirtschaftliche Fehlentwicklungen lassen sich nicht so leicht auffangen. Die Bürgervertreter und Politiker wirken immer öfter genauso ratlos wie die engagierten Bürger.
Am Trillke-Gut flammt noch einmal das Engagement auf, dass die Moritzberger in den 1990er Jahren zeigten: Die Gärten und Wiesen sollen bebaut werden - Baumbesetzungen, Polizeieinsatz, zähe Verhandlungen folgen. Gegen die Bebauung am Förderzentrum Bockfeld protestiert nur noch ein einziger Nachbar.
Zwölf-Apostel steht wegen der Bausubstanz des Gemeindezentrums vor großen finanziellen Problemen. Phoenix wird zur Industriebrache, hier geht es um die Rettung älterer Bausubstanz und um neue Nutzungen. Der Schutz kultureller Werte wird zum Hauptanliegen der Jahre zwischen 2000 und 2010 - die Notwendigkeit der wirtschaftlichen Entwicklung bestreiten die Bürger längst nicht mehr. Kulturarbeit ist die neue Domäne der Moritzberger: Ausstellungen, Konzerte, straßenfeste, Neujahrsempfang und ein Windthorst-Denkmal für die Kreuzung Güldener Löwe (Juni 2002), ein Moritzkugel-Denkmal für die Dingworthstraße (Februar 2005). Als „Moritz“ 15 Jahre alt wird, lädt er zum Neujahrsempfang ins Café Lokal Redaktion ein.
Der Berg ist im Umbruch, es wird investiert. Zwölf-Apostel kann die dringendsten Sanierungsprobleme lösen (Mai 2005), die Sporthalle wird zur S-Arena (April 2007), der „Stadtumbau West“ bringt ab 2009 Fördergelder auf zehn Jahre. Das Phoenix-Areal ist der Hoffnungsträger auch für die Probleme der Dingworthstraße. Die GBG investiert in den Altbaubestand von Pippelsburg, Elzer- und Maschstraße. Selbst die Jahrzehnte alten großen Dramen - Schwermetalle in der Innersteaue und Dioxin auf dem Rex-Brauns-Sportplatz - werden nicht mehr unter den Tisch gekehrt, sondern angegangen - auch wenn es weh tut. Der Bürger kann sich zurückziehen, sich um die kleinen Geschäfte und die Kultur kümmern. Seine Beteiligung ist jetzt akzeptiert, aber nicht unbedingt nötig.
Auch „Moritz“ wird zur Expertensache, aus der Gruppenarbeit der ersten Jahre ist ein Eine-Frau-Betrieb geworden. Die Zeitung tritt nicht mehr so frech auf wie in den 1990er Jahren - keine klaren Fronten mehr, gegen die man anrennen könnte. Engagement versandet im hoch spezialisierten Getriebe der Planverfahren. Manche Entwicklung ist auch einfach nur schön: Der Blick vom Bergholz auf die Stadt geschützt - Moritzberg als „Pufferzone“ für das Weltkulturerbe (September 2008).
Im Mai 2008 gerät der Berg plötzlich wieder in heftige Bürgerbewegung: Die Kleingärten im Bockfeld sollen bebaut werden, der Flächennutzungsplan 2020 soll damit die Schrumpfung der kleinen Großstadt verhindern. Die Kleingärtner laufen Sturm - mit Fantasie und Engagement wie in den 1990ern - und haben Erfolg. Der neue Stadtbaurat ist Realist, die Ziele des Flächennutzungsplans werden in 2009 heruntergesetzt, die Schrumpfung der Stadt wird sowieso nicht zu verhindern sein.
Die weltweite Wirtschaftskrise und die desolaten Finanzen der Stadt schaffen nach zehn Jahren Umbruch im neuen Jahrtausend wieder eine veränderte Stimmungslage: Im Bergholz wachsen die Waldpfade zu, durch die Hausgärten wandern Füchse, straßen und Gehwege sind unter Schnee und Eis begraben - es hilft nichts, „Freie Fahrt“ zu fordern. Manches Bauprojekt wird abgespeckt: Werden denn neue Wohnungen noch zu vermieten sein?
2010 - das frisch angebrochene Jahrzehnt sieht gar nicht so schlecht aus: Der Bürger braucht sich nicht mehr aufs Kulturelle zu beschränken. Er muss wieder öfters zum Besen greifen oder bis zur straßenmitte Schnee schippen. Auch die öffentlichen Grünanlagen könnten etwas Pflege in Eigeninitiative gebrauchen. „Wir machen das selbst“ - der Spielraum wächst wieder und damit auch das Maß der Selbstbestimmung. Am Horizont tauchen neue Glanzlichter hoch spezialisierten Bürgerengagements auf: die blauen Kartoffelsorten aus dem „Berggarten“, der Rad- und Fußweg von Moritzberg in die Innersteaue. - Der engagierte Moritzberger ist nicht mehr Unruhestifter und auch nicht mehr pro-Forma-Beteiligter - er wird wirklich gebraucht.
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