Stadtteilzeitung Hildesheim West
Nr. 208 · September 2010
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Der fliegende Zuckerkuchen

von Karl-Josef Fricke

Oft denke ich an die Zeit von 1935 bis 1940 zurück. Sie war ein Teil meiner Schulzeit und ich erlebte sie in der neu entstandenen Weststadt-Siedlung „Am Neuen Teiche“. Trotz vieler Entbehrungen – fast alle „Häuslebauer“ hatten sich bis an die Grenze ihrer Finanzkraft belastet – war es für uns Kinder in der neuen Heimat eine herrliche Zeit. Freiheit in der unverbauten Natur, Freundschaften mit gleichalterigen Jungen und eine weitläufige Umgebung mit Feld, Wald und Wiesen setzten unserer Freizeitgestaltung keine Grenzen. Wir haben diese Möglichkeiten bei jeder sich bietenden Gelegenheit völlig unbeschwert und oft mit jugendlichem Leichtsinn genutzt. Aber davon soll hier nicht die Rede sein.

Durch die finanziellen Probleme, die fast alle Anwohner vom Neuen Teich belasteten, war vor allem in den größeren Familien „Schmalhans“ Küchenmeister. Das tägliche Einerlei von Brot und Marmelade wurde hin und wieder an den Sonntagen durch einen Semmel zum Frühstück und Nachmittagskaffee unterbrochen. Der aus heutiger Sicht simple Zuckerkuchen war eine Besonderheit für die Festtage wie Weihnachten, Ostern und Pfingsten.

Wir Jungen hatten bei dieser Besonderheit eine wichtige Aufgabe. Am Morgen vor den Festtagen übergab uns die Mutter einen Beutel, in dem fein säuberlich in ein Tuch und zum Schutz gegen Kälte noch mit Zeitungspapier umwickelt ein dicker Kloß Kuchenteig lag. Unser Schulweg führte in diesem Falle bei Bäcker Mahnkopp vorbei. Wir gaben den Kuchenteig ab und bekamen eine Nummer genannt, unter der der fertige Kuchen abgeholt werden konnte. Nach Schulschluss führte der Heimweg wieder zu Bäcker Mahnkopp und wir nahmen den fertigen Zuckerkuchen in Empfang. Auf einem Holzrost, auf dem Kopf gelagert, wurde der Kuchen nach Haus getragen. So auch Weihnachten 1938.

Es hatte geschneit und eine frische Brise wehte uns den Pulverschnee ins Gesicht. Unser Heimweg von der Schule führte uns über Bäcker Mahnkopp in Richtung Triftstraße und dort weiter bis zum Prozessionskreuz. Hier bogen wir in den Feldweg ein (heute Joseph-Müller-Straße). Vor uns lag das weite Ackerland des Propsteihofs.

Nach wenigen Schritten auf dem Feldweg traf uns plötzlich eine heftige Windböe, erfasste von meinem Freund Josef den Kuchen und dieser segelte wie „Aladins fliegender Teppich“ einige zehn Meter durch die Luft und landete recht unsanft auf dem Acker.

Das Lachen blieb mir im Halse stecken, denn Augenblicke später machte sich auch mein Kuchen selbstständig und segelte vom Wind getragen dahin.

Nachdem der erste Schreck überwunden war, sammelten wir zwischen den Ackerschollen, die noch aus dem Schnee ragten, die Bruchstücke der beiden Kuchen zusammen und fügten sie, so gut es ging, wie ein Puzzle zusammen. Jetzt, nach dem Schaden, waren wir schlauer. Wir legten die gesammelten Stücke auf einem Holzrost übereinander und deckten das Ganze mit dem zweiten Holzrost ab.

Mit bangem Herzen erreichten wir den Neuen Teich, erwarteten an der Haustür das Donnerwetter von Josefs Mutter. Aber es geschah nichts. Wortlos trug sie den Kuchen ins Haus und ich war aus dem Hilfsdienst entlassen.

Am ersten Weihnachtstag saß ich selbstverständlich mit in der Kaffeerunde von Josefs vier Geschwistern. Es gab nicht den obligatorischen „Stremmel“-Zuckerkuchen, sondern etwas völlig Neues, „Bruch“-Zuckerkuchen. Die Bruchstücke waren jedoch kein Hindernis für unseren ständigen Appetit.

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