Stadtteilzeitung Hildesheim West
Nr. 214 · April 2011
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Mauritius und Hildesia – 100 Jahre zusammen

(sbr) „Heute ist der Tag, ... an dem ‚Mauritius‘ sich ‚Hildesia‘ für das ganze Leben zu eigen gibt. Aber nicht der Not gehorchend, nein, aus eigenem Trieb tritt Mauritius von seinem schönen Berge herab zu Euch, den weisen Hütern der Stadt Hildesheim. Zu wessen Gunsten oder Ungunsten sich die Waagschale neigen wird, das liegt noch verhüllt in der Zukunft Schoß.“ So kommentierte der letzte Ortsvorsteher Carl Ruthe in einer Rede die Eingemeindung am 1. April 1911 im Rathaus an der Zierenbergstraße.

Spinnen wir die Geschichte von „Mauritius“ und „Hildesia“ weiter: eine 100-jährige Ehe aus Liebe, aus Vernunft oder aus Zwang? An dieser Frage scheiden sich die Geister – damals wie heute.

Mauritius, der unabhängige schwarze Held, „Kämpfer Christi“ und unbeirrt katholisch, konnte die Übergriffe der Hildesia über Jahrhunderte hinweg abwehren. Die hatte sich im Laufe der Zeit von der im Walde verirrten Hildesheimer Jungfrau zur Stadtdame entwickelt, zur reichen Bürgersfrau mit vielen Begehrlichkeiten. Vor allem wollte sie Land – Land auf den luftigen sonnigen Höhen am Westhang der Stadt. Streng wachten die Bergväter darüber, dass Mauritius dem Werben der Stadtdame nicht erlag. „Stadtknecht“ sollte der kriegerische Held nicht werden. „Bei uns auf dem Moritzberge kann der Großstadt-Kitzel keine Wurzel schlagen“, erklärte der Gemeindevorstand 1874.

1882 versuchte die Dame Stadt, durch eine Zwangseingemeindung per Gesetz zum Ziel zu kommen. Das wurde erfolgreich abgewehrt mit Hilfe des Mannes, der die Villa Windthorst zur Villa Will-nicht machte. Als versuchte „Vergewaltigung“ bezeichnete er – selbst ein Katholik, Freund der Minderheiten und unerbittlicher Gegner des Zentralstaates – den Übergriff. Hildesia rächte sich umgehend: 1886 setzte sie eine neue Grenzziehung durch – die Gummifabrik fiel komplett an Hildesheim, das Trillke-Gut auch und die Dammtorländereien sowieso – alles Jahrhunderte alte Streitpunkte. Das Einkommen des Mauritius wurde dadurch empfindlich geschmälert.

Er reagierte mit Trotz, verriet seine Prinzipien und verlegte sich auf Protz: Ein Elektrizitätswerk musste her, zum ersten Mal wurde ein Rathaus gebaut. Das half dem Selbstbewusstsein, brachte aber den Ruin – zusammen mit der Großzügigheit und Weltoffenheit, die für Mauritius Tradition war. Hildesia industrialisierte und kassierte die Steuern der Fabriken. Mauritius nahm die Heerscharen der neuen Industriearbeiter auf: Moritzberg wurde zur Arbeitervorstadt von Hildesheim. Der Krehla wurde bebaut – zum Schrecken Hildesias, die dort ein Villenviertel mit Stadtblick plante.

In dem Maße, wie Hildesheim wuchs, geriet Mauritius ins Schlingern: Schule, Trinkwasser, Kanalisation und Straßenbau für die mehr als vervierfachte Einwohnerzahl – das klappte nicht. „Die Dame hat Geld“, das wirkte auf Mauritius nun zum ersten Mal. Doch sie war zickig geworden: Arbeiterviertel statt Villenviertel war nicht ihr Ding. Die Verhältnisse spitzten sich zu und erzwangen die Entscheidung: ein freiheitsliebender Hungerleider und eine reiche üppige Dame zusammen auf engstem Raum – die Grenzen dazwischen kaum noch auszumachen. Moralischer Druck seitens des Landrats kam hinzu: „Die Lage Moritzbergs ist durch die Entwicklung Hildesheims hervorgerufen“, erklärte er 1904. Ein Finanzausgleich an die Vorstadt würde nicht ausreichen, es blieb nur die Eingemeindung als Lösung – aus Vernunft. Wirtschaftliches Wachstum war der Motor. „Warum noch länger gesondert leben, da wir vereint reicher werden“, beschloss Carl Ruthe seine Eingemeindungsrede.

So stieg Mauritius herab vom Berg, von seinem hohen Ross, und die begehrliche Dame stieg auf: Nach dem ersten Weltkrieg begann die Bebauung all der neuen Ländereien an den Berghängen, Ende der 1990er Jahr war sie weitgehend abgeschlossen. Mauritius war umzingelt, sein Hölzchen zu einer Insel im Stadtbetrieb geworden. Die Dame hatte sich allerdings übernommen – seit 1978 war sie selbst eingekreist, konnte nicht mehr selbstherrlich entscheiden: In diesem und jenem, vor allem in schützenswerten Belangen, war ihr nun der Landkreis vorgesetzt. 35 Jahre später, nach dem Rückzug der Industrialisierung, hat die Dame keinen Heller mehr in den Taschen. Die Industriebrachen beseitigt sie korrekterweise noch.

Mauritius ist im Aufwind – zeichnet sich gar die Rückkehr zu einer Idylle ab? Nach versuchter Vergewaltigung und Vernunftehe wäre jetzt vielleicht Liebe an der Reihe.

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