Stadtteilzeitung Hildesheim West
Nr. 217 · Juli 2011
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Zur Bedeutung des Moritzberger Wappens

Teil 3: Die Botschaft

Das Wappen ist in zwei Seiten aufgeteilt, links eine gelbe, rechts eine rote. Rot und Gold sind die Farben Hildesheims, sie wurden auch in den Wappen umliegender Gemeinden aufgegriffen. Vor dem zweigeteilten Hintergrund sind drei Berge aufgereiht – freundliche gerundete Hügel in warmem Grünton. Diese Landschaft entspricht, äußerlich gesehen, der Hügellandschaft im Westen Hildesheims. Man kann sie als die drei Hügel des Moritzberges verstehen: den Katzberg (Berghölzchen), den Zierenberg (Moritzberg im engeren Sinne) und den Krehlaberg. Jeder der Berge trägt drei Blumen von je einer bestimmten Art: Rosen der erste, Waldlilien der zweite, Violen (Veilchen oder Stiefmütterchen) der dritte.

Diplom-Pädogoge Michael Schwindt erklärt: Die Blumen auf den Bergen legen nahe, dass es um etwas anderes geht als um ein äußeres Abbild der Landschaft. In diesem Bild versteckt sich eine Bedeutung, die entschlüsselt werden kann. Vor allem erstaunt die Häufung der Zahl drei: drei Berge, auf jedem drei Blumen, und eine der Blumenarten wohl auch noch die Viola tricolor, die dreifarbige Viola, das Stiefmütterchen also (Stiefmütterchen und Veilchen tragen den lateinischen Familiennamen Viola). Drei ist die heilige Zahl, sie steht für Harmonie und Ausgewogenheit, für Vollkommenheit und Vollendung: Die göttliche Dreifaltigkeit, die zeitliche Dreiteilung in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und die räumliche in die drei Dimensionen Länge, Breite und Höhe sind Beispiele für die Einheit von Dreien in Einem.

Dombibliothek Hildesheim, Urkunden C II 5
Dombibliothek Hildesheim, Urkunden C II 5

Den Blumen werden traditionell symbolische Bedeutungen zugeschrieben – man sagt etwas „durch die Blume“. Seit der Biedermeierzeit steht die Rose für die Liebe, die Lilie für Reinheit, Veilchen und Stiefmütterchen für Bescheidenheit und Treue. In der Zeit, als der Wappenbrief für die Moritzberger Bürger ausgestellt wurde, waren die Zuordnungen wohl noch vielschichtiger. Die Rose ist nach C. G. Jung – kulturunabhängig – ein Symbol der Ganzheit, sie symbolisiert die Gefühlsseite der Weiblichkeit, seelischen Reichtum und Vollkommenheit. Die Lilie kann, anderen Quellen zufolge, als Symbol für Uneigennützigkeit und Innerlichkeit stehen. Das Wilde Stiefmütterchen ist mit seinen drei Farben Blauviolett, Gelb und Weiß ein Symbol für die Dreieinigkeit oder Dreifaltigkeit.

Alle Blumen blühen. Das bedeutet, was sie symbolisieren, ist voll ausgebildet. Drei mal drei ergibt neun – eine Zahl, die durch das Vielfache von Harmonie und Ausgewogenheit Schutz und Sicherheit symbolisiert. Die drei Berge mit den je drei Blumen bieten einen Raum, in dem sich Harmonisches in Sicherheit entwickeln kann – und das angesichts des Untiers, das am Fuß der Berge liegt: ein schwarzer Drache mit feuerfarbenen Klauen, ein Mischwesen aus Reptil, Vogel und Raubtier, das Feuer spuckt.

Die heilige Margaretha wird öfters mit dem Drachen dargestellt. Er soll ihr im Gefängnis erschienen sein, um sie zu verschlingen. Sie schlug ein Kreuzzeichen und das rettete sie. Margaretha wurde durch ihren Glauben an Gottes Hilfe gerettet, nicht durch Körperkraft oder Klugheit. Der Drache erscheint hier als Symbol für das Böse – schwarz, also durchaus materiell und von dieser Welt, aber mit roten Füßen, das heißt dem Ursprung im „Feuer“, in anderen Welten. Häufig soll er für materialistische und kaltblütige Einstellungen stehen. In der froschgrünen Variante ist er übrigens ein Symbol für nackte Sexualität – wie im Märchen vom Froschkönig angedeutet.

Der Drache, so erläutert Michael Schwindt, steht nach C. G. Jung für den Archetyp oder das Urbild der Mutter, die zerstören und verschlingen kann: Sie lässt ihr Kind nicht los, umschlingt es und verhindert sein Erwachsenwerden. Dieser (Haus-)Drache muss häufig im Märchen von einem Prinzen besiegt werden; dadurch wird eine Prinzessin erlöst und als Frau gewonnen. Der Drache ist hier das Unbewusste, das seine Kinder eher zerstört, als ihre Eigenständigkeit zuzulassen. Was bewusst werden will, wird wieder verschlungen – es wird verdrängt, zurück in die Tiefen geschleudert. Das ist der zerstörerische Aspekt des Drachens.

Der Kampf mit dem Drachen, den der Legende zufolge St. Georg und der Erzengel Michael führen, ist der Kampf mit dem zerstörerischen Unbewussten: Das Verdrängte muss ans Tageslicht, ins Bewusstsein geholt werden, um entschärft zu werden – immer wieder aufs Neue, denn es wächst nach.

Das Unbewusste hat aber noch andere Seiten: Der Drache auf dem Moritzberger Wappenbild ist sehr lebendig, er sprüht Funken. Ganz besonders fällt sein Schwanz auf, in einer Pfeilspitze zielt er nach oben, über die Berge und die Blumen hinaus, in regelrecht elegantem Schwung. Durch diese Bewegung schwingt sich etwas von dem massigen dunklen Ungetüm auf in höhere Sphären. Das ist die schöpferische Kraft, die ihre Quelle im Unbewussten hat. Sie befördert Schätze aus den Tiefen herauf, bezieht von dort ihre Vitalität – dieser Aspekt des Drachen ist feurig und kreativ, der Drache sprüht vor Energie und Ideen.

Noch ein dritter Aspekt des Drachens wird auf dem Wappen bildlich ausgedrückt: Das Untier trägt einen Speer wie eine Fahnenstange im geöffneten Rachen, es bietet damit die Basis für einen Sieg – einen Sieg des Kreuzes in diesem Fall, das oben auf dem Fähnchen eingezeichnet ist – den Sieg einer bestimmten Ausrichtung der menschlichen Gemeinschaft, einer bestimmten Kultur, einer bestimmten Machtstruktur.

Der Drache auf dem Moritzberger Wappen ist sozusagen dreifältig, er zeigt sich von der zerstörerischen, der schöpferischen und der tragenden, erhaltenden Seite.

Zum dritten Aspekt passt die eigentümliche Haltung des Drachen: Er duckt sich weg wie ein gezähmtes Tier, ein dressiertes Tier. Er hat sich gefügt und balanciert als Ergebnis seiner Unterwerfung den Speer mit dem Fähnchen – mit der Spitze nach oben. Er ist ein dienstbarer Drache geworden – warum?

Der Drache wird überragt von den drei Bergen mit je drei Blumen. Diese Blumen symbolisieren drei Arten von Tugenden: Liebe und inneren Reichtum des Gefühls im Sinne der Rose, Uneigennützigkeit und Innerlichkeit im Sinne der Lilie, Bescheidenheit im Sinne der Viola. Diese Qualitäten erscheinen als sehr weiblich, sie haben mit dem „Sieg“ der heiligen Margaretha zu tun, sie sind des Rätsels Lösung.

Hierin liegt die Botschaft des Wappenbildes und sein Versprechen: Wenn ihr aus ganzheitlichem Gefühl und Liebe heraus, uneigennützig und ohne Überheblichkeit dem Drachen, dem starken Unbewussten dieses Ortes begegnet, so könnt ihr es zähmen – seine zerstörerische Seite dienstbar machen, seine schöpferischen Energien und seine Tragkraft nutzen. Der Drachenkampf mit der Lanze, der Waffe der mutigen heiligen Männer, wird hier durch eine andere, sozusagen weibliche Vorgehensweise ersetzt. „Mit den Waffen der Frau“ könnte die Botschaft der heiligen Margaretha an die Bergbewohner heißen – mit ganz bestimmten, aufrichtigen und authentischen Einstellungen, die erst durch ihre Uneigennützigkeit große Kraft erreichen und zur „Waffe“ werden.

Erste Voraussetzung für diese Art von Stärke ist sicher, dass die Margaretha und jeder, der ihre Botschaft versteht, das Untier, das zerstörerische Unbewusste in sich selbst, ins Bewusstsein holt und lernt, „die Kinder“, das selbst Geschaffene, loszulassen statt zu umschlingen. Das Ziel, für das die „Waffen“ der Margaretha empfohlen werden, ist danach auch die äußere Befreiung von der Umschlingung durch den bösen Drachen. Das große geschichtliche Thema durch viele Jahrhunderte hindurch ist die Selbständigkeit der Moritzberger Bürger – damals bei der Wappenverleihung die Selbstbestimmung gegenüber den Stiftsherren, später die Behauptung gegenüber der Stadt Hildesheim und ganz allgemein bis heute das Recht des einzelnen Bergbewohners auf (inneres) Wachstum, Selbstbestimmung und Loslösung von den Müttern und Vätern. Die Margaretha zeigt mit ihrem Wappengeschenk einen Weg dahin.

Sabine Brand
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