Stadtteilzeitung Hildesheim West
Nr. 233 · Dezember 2012
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Moritzberg Verlag
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Bäckerei Krone

Auf Suche nach dem Vater

Männerträume im Lazarett

(sbr) Ein ungewöhnliches Gedicht ist „Moritz“ auf den Schreibtisch geflattert – Spottverse auf eine Frau, die 1944/45 im Lazarett in der Gelben Schule gearbeitet hat. Einzigartig ist weniger der Inhalt – typisch männlicher Humor und die Langeweile eines Kranken haben frivole Reime produziert. Ungewöhnlich ist aber, dass dies Gedicht – als einziges bislang bekanntes persönliches Dokument des Reserve-Lazaretts an der Bergstraße – die Jahrzehnte überstanden hat und was es für seinen Besitzer bedeutet.
Portrait
Wolfgang Hettig ist mit seiner Frau Barbara erst vor wenigen Jahren auf den Moritzberg gezogen. Hier hat er als Sechzigjähriger beim Kramen in alten Papieren festgestellt, dass vor ihm schon sein Vater Max Woldemar aus Chemnitz auf dem Berge gewohnt hatte – 1945 im Lazarett der Moritzbergschule, dann bis 1948 im Haus gegenüber, Bergstraße 62. Nie war darüber zuhaus gesprochen worden – als der Vater starb, war der Sohn gerade volljährig geworden.

Seine Mutter, Lucia Flentje, hatte in Breslau Medizin studiert, war aber 1944 wegen der sich nähernden Ostfront in ihre Heimatstadt Hannover zurückgekehrt. Sie wurde zur Arbeit als Krankenschwester ins Lazarett der Schule an der Bergstraße beordert, regelmäßig kam sie deshalb von Hannover mit dem Zug. Das Lazarett war am 30. Januar '45 eingerichtet worden und bestand bis Ende Mai 1946. Hier lernte Lucia den Patienten Max Hettig, Elektriker und Funker, kennen. Als der Sohn sie später fragte, wo sie denn den Vater zum ersten Mal getroffen hätte, sagte sie: „An einem Brunnen – da war ein Brunnen vor dem Haus“! 1948 zog Max, 45-jährig, nach Hannover zu Lucia, die beiden heirateten, 1949 wurde Wolfgang geboren. Was sich dahinter im Einzelnen abgespielt hat, würde der Sohn heute, wo er unerwartet wieder auf den Vater gestoßen ist, gern verstehen.

Einziger Hinweis auf die innere Welt jener Zeit ist das Gedicht: acht Seiten Verse in Tinte auf braunem Papier zu einem kleinen Heft zusammengefügt – wie ein Geschenk.

„Mein Traum von der Else“ ist der Titel. Die ersten Zeilen:

Ich hatte heut Nacht einen totschicken Traum
Den ich jetzt euch erzähle. Ihr glaubt es wohl kaum,
Denn wie ich mich müde im Bett herumwälze
Erschien mir plötzlich die Hanischen Else!

Im Detail werden die Eigenschaften der Frau vorgeführt und frivol ihre Abenteuer mit den Männern im Lazarett kommentiert.

Und singend, trällernd, allgemach
Verbrachte sie den Arbeitstag.
So ward es Nacht. - Ab 18 Uhr,
Sah man von Else keine Spur!

Mit Argusaugen enträtselt der Schreiber zur Belustigung seiner Kameraden eine neue Liebschaft der Krankenschwester – eine Welt, in der Frauen in der Überzahl waren, in der die Männer, obwohl verwundet oder krank, sich als etwas Rares empfinden konnten.

Gegen Schluss der Verse wird ein kleiner Hinweis auf die Arbeitsatmosphäre im Lazarett gegeben und auf die Frau, die Hettig später heiraten wird:

Sie spielte sich auf sehr selbstbewusst
Mit „Maria! Du kannst mal...“ und „Lucia! Du musst...“!
Charlotte und Anna, überhaupt, alle vier
Jagte sie dauernd durch das Revier.

„Mein Vater beobachtete die Weiblichkeit des Lazaretts sehr genau“, schließt Wolfgang Hettig. Er weiß nicht, warum sein Vater dort war. Bergstraße 62, wo er nach der Entlassung wohnte, war 1945 von der amerikanischen Armee besetzt. Hier wurde die Wache für das Reserve-Lazarett eingerichtet, die Eigentümer Klöppel mussten das Haus räumen. „Die Bewachung des Lazaretts war eigentlich keine“, erinnert sich Theo Iburg, der damals intensiv miterlebte, was auf der Straße passierte. „Die deutschen Soldaten, die laufen konnten, kletterten hinten über den Zaun und gingen in die Stadt.“

Wolfgang Hettig, Tel. 92 44 92, würde sich freuen, wenn jemand Näheres über seinen Vater Max oder die Arbeit seiner Mutter Lucia mitteilen kann.
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