Stadtteilzeitung Hildesheim West
Nr. 181 · Februar 2008
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Frau Cohns Beerdigung (1938)

Helga Buhtz, geborene Hoppe, erzählt im März 2002:


Ich bin 1919 in Hildesheim geboren und in der Maschstraße bei meinen Großeltern erzogen, in den roten Backsteinhäusern. Ich bin zur Brauhausschule gegangen. Bis zu meiner Heirat habe ich in der Maschstraße gewohnt. Mein Großvater war grundsätzlich gegen Hitler. Der ist nicht mal die paar Schritte zur Elzer Straße hochgegangen, wenn Hitler zum Bückeberg fuhr.

Ich habe Familie Cohn persönlich gekannt. Ich war in Behandlung bei Dr. Cohn. Fast der ganze Moritzberg war in Behandlung bei ihm. Es gab nur noch Dr. Steinmann, der war nicht sehr beliebt. Cohn hatte seine Praxis im ersten Stock in dem großen Eckhaus unten an der Bergstraße. Er hatte zwei Söhne – als es schlimm wurde mit den Nazis, hat er sie nach Amerika geschickt. Wir haben mit den Söhnen von Dr. Cohn gespielt, wir aus der Maschstraße, obwohl das ein Stück weg war. Sie waren in meinem Alter.

Cohn hatte Angst um seine Söhne, aber er hat nie daran gedacht, dass ihm selbst etwas passieren könnte. Er hat weiter praktiziert bis zum letzten Tag, bis sie ihn geholt haben. Wenn man ihn fragte: „Haben Sie keine Angst, dass irgendwas passiert? Die Nazis sind ja zu allem fähig”, dann hat er gesagt: „Ich bin doch Deutscher, ich habe für Deutschland ein Bein verloren, die werden mich nicht holen”. Er hat verkehrt gedacht.

Dann haben sie Dr. Cohn weggeholt, angeblich weil er Blutschande begangen hatte. Ich weiß genau, dass das erfunden ist. Sie mussten ja etwas erfinden, sonst hätten sie ihn nicht wegholen können. Naja, sie haben ihn weggeholt und ins Gefängnis gesteckt. Seine Frau hat sich dermaßen aufgeregt, sie hatte solche Angst, dass sie sich umgebracht hat, mit Tabletten umgebracht. Sie war keine Jüdin. Ich kannte Frau Cohn – „Guten Tag”, mehr nicht. Sie ging meistens nicht mehr selbst einkaufen, sondern schickte ihr Mädchen. Sie bewegte sich nicht viel unter Menschen, und nachher schon gar nicht mehr. Sie wurde auf dem alten katholischen Moritzberger Friedhof im Bockfeld beerdigt.

„Mein Gott”, habe ich damals gesagt, „die haben so viel Gutes hier am Moritzberg getan.” Alle waren empört, dass sie Dr. Cohn weggeholt hatten – da waren die Leute noch empört –, aber sich darum einlassen: Nein, um Gottes Willen; – etwas dazu sagen: Nein, das war ja ein Jude.

Ich war neunzehn Jahre alt damals, ich bin bei der Beerdigung gewesen, mit meiner Nachbarin Elle E.. Die Nachbarn waren arme Leute, und von denen wusste ich, dass Cohn am Moritzberg die gratis behandelt hatte, die nicht versichert waren – es gab viele arme Leute damals auf dem Moritzberg. Sie haben ihn geholt, und Frau Cohn konnte das nicht verkraften und hat sich umgebracht. Dann war die Beerdigung, und da haben sie Dr. Cohn – das ist so lächerlich, das können Sie sich nicht vorstellen – so ein wehrloser Mann, wie der zur Beerdigung geführt wurde: mit zwei Soldaten, der eine rechts und der andere links, mit aufgepflanztem Gewehr. So wurde er an’s Grab seiner Frau geführt.

Dr. Cohn war ein großer stattlicher Mann, 1,80 Meter bestimmt, ein schöner Mann. Sie hatten ihm die schwarzen Haare alle abrasiert, er stand da mit ’ner Glatze. Ich war darüber erschrocken. Er hat kaum hochgeguckt. Er hat mich aber gesehen und hat auch gegrüßt. Er weiß, dass ich am Grab war.

Auf der Beerdigung von Frau Cohn waren weiter keine Leute. Das hat keiner gewagt. Es war, wie gesagt, gefährlich. Dass man mit Juden sympathisierte, war schon ein starkes Stück. Aber ich habe gedacht: ‚Wieso nicht? Ich gebe ihm das letzte Geleit, weil er mein Arzt war.’ Auf die Teilnahme an Dr. Cohns Beerdigung hat uns niemand angesprochen, da ist nichts passiert. Aber Elle E. und ich, wir waren die Einzigen auf der Beerdigung, die Einzigen vom ganzen Moritzberg. Der halbe Moritzberg war in Behandlung bei Dr. Cohn gewesen. Er war schon ein sehr beliebter Arzt, zu jedem nett und freundlich. Ich will nicht sagen, dass er deshalb Freunde hatte – die hat er damals auch nicht gehabt.

Damals hat niemand etwas gesagt – gedacht schon, aber nicht gesagt – hätte ja auch nichts geändert. Sie hätten sich nur selber in Gefahr gebracht. Das war 1937. Und dann hörte man nichts mehr von Dr. Cohn.

Das war bei den Nazis wirklich schwer, zu seinen Ansichten zu stehen,. Am besten war, man sagte gar nichts. Sowie Hitler an’s Ruder kam – nein, sowie Hitler da war, wusste man, da kommt etwas gegen die Juden. Man wusste von Anfang an, dass Dr. Cohn Jude war. Damals brauchte man nicht fragen, wer Jude war, das war bekannt. Naja, die Moritzberger haben ihn nötig gehabt, und er ist immer gekommen, zu jeder Tag- und Nachtzeit. Er war ein Arzt mit Leib und Seele. Nur als er mal selbst jemanden nötig gehabt hätte, da hatten alle mit sich selber zu tun. Sie hatten einfach nicht die Courage zu sagen: „Was macht ihr denn mit dem Mann?” – ich ja auch nicht.

Quelle: unveröffentl. Interviewprotokoll, Kultur und Geschichte vom Berge e.V.
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