Stadtteilzeitung Hildesheim West
Nr. 232 · November 2012
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Moritzberg Verlag
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Bäckerei Krone

Rastplatz für Mittelstreckenflieger

(sbr) Sonntag, 14. Oktober 2012, 14 Uhr. Ganz ruhig ist es in der warmen Mittagssonne im Gartenkarree zwischen Bergstraße, Königstraße und Katztor. Etwas rauscht in der Luft, eine Wolke von kleinen Vögeln schwirrt über die Fachwerkhäuser der Bergstraße, immer mehr und immer neue Gruppen kommen hinterher. Zielstrebig schießen sie auf die hohen Bäume am Südende der Gärten zu, lassen sich mit lautem Geschrei und Geschwätz darauf nieder, als ob das selbstverständlich sei.

Neue Wolken von Vögeln tauchen von Norden her auf, drehen eine Runde und finden noch Platz auf den großen Linden oder auf kleineren Bäumen daneben.
Sturnus vulgaris,
der Star im Winterkleid
mit weißen Tupfen

Foto: Tom Dove, NABU

Die meisten eilen mit schnellem Flügelschlag im Ruderflug, einzelne sausen auf dem letzten Wegstück im Gleitflug. Alle sind offensichtlich fröhlich und sehr aufgeweckt – nichts anderes ist mehr zu hören als das Vogelgeschnatter in den Bäumen. Die Menschen drumherum in den Gärten sind still, eine halbe Stunde lang gucken und lauschen sie voll Staunen: Das ist eine andere Welt, als man bislang hier kennt – eine geschäftige Vogelwelt. Um 14.30 Uhr plötzlich erhebt sich das Völkchen, das Geschwätz verstummt – schlagartig, in einer Wolke, sind alle fort auf dem Weg nach Süden.

Es waren Stare, weit mehr als tausend, wie sich die Nachbarn aus Katztor und Bergstraße bestätigen. Nie zuvor hat jemand solche Schwärme in den Gärten hier gesehen. Was haben sie gemacht? Gefressen? Sich ausgeruht? „Sich unterhalten, zusammen geschwatzt“, sagt ein Mann, der im Garten war und geistesgegenwärtig gefilmt hat – „wegen dem Sound, dem unglaublichen Klang“. Die Stare sammeln sich um diese Zeit; meist sind sie Mittelstreckenzieher, das heißt, sie fliegen 2000 bis 4000 Kilometer bis in ihr Winterquartier. Wer hier durchfliegt, kommt meist aus Nordeuropa und überwintert im europäischen Südwesten. Ein Starenschwarm kann unterwegs immer größer werden bis zu über einer Million Fliegern. Manche Stare wandern seit Jahren nicht mehr weg und überwintern in den Städten. Diese aber, an einem außergewöhnlich warmen Oktobersonntag, flogen nach Süden.

„Eine neue Route“, vermutet der Mann, der gefilmt hat. „Bis heute ist unbekannt, wonach die Vögel sich richten, wenn sie auf einer neuen Route fliegen. Sicher orientieren sie sich am Magnetfeld der Erde und an den Sternbildern. Aber wie verständigen sich die aus Hamburg und die aus Berlin auf eine neue gemeinsame Route?“ Und wie haben sie sich auf diesen Rastplatz auf drei alten Linden zwischen den Häusern am Moritzberg geeinigt?


 Die mächtigen alten Bäume im Eck zwischen Katztor und Königstraße waren kürzlich Rastplatz für einen großen Schwarm Stare auf dem Weg nach Süden
Foto:Sabine Brand

Die Linden sind durchaus ein besonderer Platz, bis vor wenigen Jahren wurde die Gruppe durch eine noch höhere Esche ergänzt – einen für private Gärten ungeheuer großen Baum. Dieser Ort ist ein besonderer auch von seinem Alter her und von der Bodenbeschaffenheit. Bis 1870 war hier der Lauf des Blänkebachs, mit der Trillke zum Kupferstrang vereinigt. In einem großen Bogen floss der kleine Strom im Bereich der Bennoburg bis an den Berghölzchenhang, kriegte im späteren Katztor die Kurve und lief auf den Güldener Löwen zu – ehe es die Königstraße gab. Die großen Bäume standen damals in den Gärten direkt am Wasser, wie alte Bilder zeigen. Die letzten drei Linden zeigen an, wo der Verlauf des Bachs in Richtung Dingworthstraße war. Das heißt, der Rastplatz der tausend Stare ist mindestens 150 Jahre alt. Er hat die Verlegung des Blänkebachs, den Bau der Königstraße und die Besiedelung des Katztors überdauert – vielleicht doch eine alte Orientierungsmarke für frühere Zugvogelgenerationen?

Eine der ersten Bewohnerinnen der Königstraße, Inge Bierkandt, erinnerte sich, dass Ende der 1920er Jahre noch Wassertümpel bei den alten Linden waren, Reste des früheren Bachlaufs. Die ersten Häuser im Katztor sollen Ende der 1930er Jahre im sumpfigen Boden auf Pfählen erbaut worden sein. Unter den hohen Linden ist auch ein sehr altes Wegstück erhalten: Es war Teil des Zugangs vom Eilersschen Hof in der Bennostraße zur Viehtränke im Blänkebach. Ein alter, in Würde erhaltener Ort, dem die Rast einer großen Vogelschar zusätzlich Ehre macht.
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