Stadtteilzeitung Hildesheim West
Nr. 247 · April 2014
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Überschwemmungsgebiete am Fuß des Moritzbergs

(sbr) Nach jüngsten Berechnungen wird es wahrscheinlicher, dass am Fuß des Moritzberges, zwischen Bischofsmühle und Dingworthstraße, hin und wieder Wasser steht – zwar nicht regelmäßig einmal jährlich wie vor dem Bau der Innerstetalsperre um 1965, aber im Schnitt einmal in 100 Jahren. Im letzten Winter wurden die Überschwemmungsgebiete in der Stadt Hildesheim neu festgelegt. Sie umfassen die Bereiche, in denen mit einem hundertjährlichen Hochwasser (HQ 100) zu rechnen ist. Die neue Verordnung setzt ein Überschwemmungsgebiet von 470 Hektar fest, das ist ungefähr dreimal so viel wie nach der alten Regelung aus dem Jahr 2002. Ein guter Teil dieser Fläche liegt im Hildesheimer Westen unterhalb des Moritzbergs.
Überschwemmung 01Blick vom Krehlaberg um 1939: Frühjahrshochwasser auf den Sportplätzen an der Pappelallee (noch ohne Sporthalle, jenseits der Pappeln die Ausstellungshalle). Diese traditionelle Überflutungsfläche ist nun Teil einer neuen Verordnung zum Überschwemmungsgebiet.
Foto: Kultur und Geschichte vom Berge e.V.
Weil extreme Wetterlagen mit großen Regenmengen in den letzten Jahren häufiger wurden und weil die natürlichen Überlaufflächen für die Flüsse seit Jahrzehnten immer stärker bebaut werden, nehmen die Hochwasser voraussichtlich an Schwere und an Häufigkeit zu. Innerhalb der neuen Grenzen für die Überschwemmungsgebiete an Innerste und Kupferstrang liegen die Straßen Schützenwiese, Bleckenstedter-, Dinklar- und Speicherstraße mit ihren Wohnhäusern sowie die frisch sanierten ehemaligen Sportplätze an der Pappelallee. Wer dort wohnt, muss sich auf das gestiegene Risiko einstellen und sein Eigentum möglichst wasserfest absichern. Grundsätzlich ist im festgesetzten Überschwemmungsgebiet nicht der Staat, das Land oder die Stadt für den Schutz zuständig, sondern jede Privatperson selbst. Sie muss auch dafür sorgen, dass von ihren baulichen Einrichtungen bei Hochwasser keine Gefährdung ausgeht. So müssen zum Beispiel Heizöltanks gegen Auslaufen oder Aufschwimmen gesichert werden.

Überschwemmung 02Hochwasser bei Schlachter Reinecke im Bergsteinweg Ecke Königstraße am 12. Juli 1898 – die Moritzberger waren an jährliche Überflutungen gewöhnt, diese war besonders schlimm
Foto: Klare
Die Untere Wasserbehörde der Stadt Hildesheim informiert über die Verbote und die Sorgfaltspflicht in den Überschwemmungsgebieten. Zum Beispiel ist die Neuerrichtung und die Erweiterung von Bauten dort grundsätzlich nicht erlaubt. Die städtischen Mitarbeiter beraten auch über die Möglichkeiten, sich gegen die Folgen von Hochwasser zu schützen.

Die Maßnahmen reichen von Gebäudeabdichtungen über Rückstausicherungen im Keller bis zu Hochwasserausrüstung mit Gummistiefeln, netzunabhängigem Radio usw. Ganz wichtig ist für die möglicherweise Betroffenen die frühzeitige Absprache über den Ernstfall mit Familienmitgliedern und Nachbarn.

Überschwemmungen am Fuß des Moritzbergs gab es in früheren Jahrhunderten jedes Jahr. Immer wenn im Harz Schneeschmelze war und der gefrorene Boden das Schmelzwasser nicht aufsaugen konnte, stand die Flussaue zwischen Moritzberg und Hildesheim unter Wasser. Das sumpfige Überschwemmungsgebiet bildete eine natürliche Grenze zwischen der Stadt und dem „Bergflecken“. Der Weg durch die Ebene von der Bischofsmühle bis zur „Bergbrücke“ über dem Blänkebach/Kupferstrang – der spätere Bergsteinweg – hieß „der Damm“.
KarteAusschnitt der Karte zur Verordnung über das Überschwemmungsgebiet von Innerste und Kupferstrang (Arbeitskarte 7) – die neu festgesetzten Überschwemmungsgebiete sind blau hinterlegt, die alten sind schraffiert.
Quelle: Auszug aus den Geodaten der Niedersächsischen Vermessungs- und Katasterverwaltung
Der Name „Dingworth“ weist auf einen Ort hin, der außerhalb einer Überschwemmungszone liegt: Eine „Worth“ ist wie eine „Warft“ im norddeutschen Küstenbereich ein vor Überflutung geschützter Ort, auf dem man siedeln kann. In der Dingworthstraße war bis Mitte des 20. Jahrhunderts die Westseite am Berg die sichere Seite, während die Hausmauern auf der Ostseite deutlich sichtbare Wasserschäden durch die jährlichen Überschwemmungen zeigten.

Am „Damm“ siedelten die Berg-Herren des Moritzstiftes 1196 Einwanderer aus Flandern an. Aufgrund der Verhältnisse in ihrer Heimat waren die Flamen geschickt im Befestigen des Überschwemmungsgebietes und im Anlegen von Deichen. Innerhalb weniger Jahrzehnte erbauten sie die „Dammstadt“, zwei Siedlungen mit Stadtrecht rechts und links des Dammes. Die Dammstädter waren durch Weberei und Tuchhandel wirtschaftlich so erfolgreich, dass die Hildesheimer Bürger sich bedroht fühlten. Am 24. Dezember 1332 zerstörten sie die Dammstadt und brachten ihre Einwohner ums Leben. Nur die Nikolaikirche der Flamen im Bereich der heutigen Beyerschen Burg wurde wieder aufgebaut, an sie erinnert bis heute die Nikolaistraße. Jahrhunderte lang wurde das Überschwemmungsgebiet am Damm dann nur noch gärtnerisch genutzt.

Oberbürgermeister Struckmann hat in seinen Lebenserinnerungen berichtet, dass man, ehe er 1875 nach Hildesheim kam, begonnen hatte, „entgegen den Vorschriften der Innersteordnung“ den Bergsteinweg zu erhöhen und auf beiden Seiten mit Häusern zu bebauen – offensichtlich weniger geschickt als die Wasserbauspezialisten aus Flandern, denn die Hochwasser bis nach Moritzberg hinein nahmen in der Folgezeit dramatische Ausmaße an. Das Wasser konnte sich nicht mehr über den Damm hinweg in der Flussaue am Fuß des Moritzberges ausbreiten, es suchte sich neue Wege. Moritzberg verlor durch die Bebauung Stück für Stück seiner Innersteaue.

Zu Struckmanns Zeit wurde versucht, den Wasserdurchfluss im engen „Innersteschlauch“ zwischen Bischofsmühle und Schützenallee zu beschleunigen. 1898/99 wurde die Schützenwiesenbrücke mit erweitertem Wasserdurchlass neu gebaut, dann der Eselsgraben, die Innerste und der Kupferstrang verbreitert und vertieft. Zwar verbesserte sich die Situation, aber die jährlichen Hochwasser waren nicht vollständig zu verhindern. Regelmäßig zur Schneeschmelze mussten vor den Häusern der Maschstraße Holzstege gebaut werden, damit die Bewohner zur Arbeit gehen konnten. 1946 führten unter der Dammtorbrücke gestaute Eisschollen dazu, dass auch in der Alfelder- und der Steinbergstraße das Hochwasser stand. 1950 bis 1952 wurde der Kupferstrang, der mit der Innerste verbunden ist, aber auch über die Trillke große Wassermengen erhalten kann, planmäßig begradigt und vertieft. Durch die Innerstetalsperre wurden schließlich die jährlichen Frühjahrshochwasser bereits im Harz aufgefangen.
Überschwemmung 03Innerste-Hochwasser an der B1 im Juni 2013
Foto: sbr
Dort, wo der „Innersteschlauch“ am engsten ist, wo der Fluss keinerlei Möglichkeit hat, sich auf Wiesen auszubreiten und zu beruhigen, ist bis heute die Bruchstelle: unterhalb des Zusammenflusses von Innerste und Eselsgraben, gegenüber vom Seniorengraben. Die Hochwasser nach starkem Regen dringen über den Durchgang des Innerste-Radweges zur Bleicher-, Dinklar- und Bleckenstedter Straße ein und setzen die Schützenwiesen bis an den Kupferstrang unter Wasser. Bislang ist auf den Wiesen Platz zum relativ schadlosen Ablauf. Die Sporthalle, das Polizeigebäude und die Paschenhalle stehen knapp, nur wenige Zentimeter, wie auf Inseln über den neuen Grenzen des Überschwemmungsgebietes.

Wenn die frisch sanierte Sportplatzfläche an der Pappelallee aber zum Wohngebiet werden soll, muss sie aus dem festgesetzten Überschwemmungsgebiet herausgenommen werden – praktisch ist das durch Aufschüttung oder durch den Bau eines Kanals möglich, der das Hochwasser außen um das Areal herumführen kann bis zum Einlauf in den Kupferstrang bei der B1-Tankstelle.

Beide Lösungen schaffen ein neues Problem. Zwar wäre sicheres Bauland gewonnen, aber dem Fluss wäre Überschwemmungsfläche fortgenommen. Er müsste sich neue Wege suchen, um die Hochwasserfluten abzugeben. Das lässt das Wasserhaushaltsgesetz nicht zu: Es schreibt einen Ausgleich, eine Ersatzmaßnahme vor. Die Wasserfluten würden sonst nur an eine andere Stelle verdrängt – vielleicht nach Himmelsthür. Die Untere Wasserbehörde im Hildesheimer Rathaus hat noch zwei ähnlich gelagerte Situationen zu knacken: eine als Supermarkt-Standort geplante Fläche an den Vierlinden und die Domäne Marienburg liegen ebenfalls im neu ermittelten Überschwemmungsgebiet.

Vielleicht lässt sich den Künsten der Einwanderer aus Flandern im 12. Jahrhundert etwas abgewinnen. Sie scheiterten nicht am Hochwasser, sondern am Neid der Hildesheimer. Ihre Dammstadt war umgeben von eigens angelegten Wassergräben, Kanälen, die den Trillkebach/Kupferstrang mehrfach mit der Innerste verbanden. Ähnlich dem Blänkebach im Süden der Dammstadt führte ein Graben auch im Norden der Dammstadt von der Innerste unterhalb der Bischofsmühle bis zur Bergmühle am Moritzberg. Dieser Graben wurde erst 1916 zugeschüttet, in seinem Verlauf befindet sich heute die Straße „Hinter der Beyerschen Burg“.

Ein gut durchdachtes System von offenen Wasserläufen könnte dem neuen Wohngebiet an der Pappelallee einen besonderen Charme geben – innovativ durch die Anknüpfung an die Geschichte des Ortes, an die Wasserbaukunst der „Dammstadt.“
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