Stadtteilzeitung Hildesheim West
Nr. 248 · Mai 2014
Der Verlag:
Moritzberg Verlag
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Bäckerei Krone

Leinen los – umdenken

„Leinen los in Venedig“, hieß es kürzlich in der Tageszeitung. Venedig möchte das schaffen, was die Krim kürzlich erreicht hat: sich per Volksabstimmung vom Mutterland trennen, von der Republik verabschieden – egal was die Zentralregierung davon hält.

Als „Fanal für Europa“ wertete das die überregionale Presse, und meinte doch eher eins gegen dies Europa, das wir kennen. Nicht nur die Krim und Venedig rühren sich, auch die Katalanen wollen sich endlich von Spanien freimachen. Die Schotten stimmen im Herbst ab und Flandern macht sich wieder Hoffnungen, die Trennung von Belgien durchzusetzen.

„Separatistische Tendenzen“ nennen die Politiker das, sie seien im Trend. „Ein Zeichen der Zeit“, stellen die Astrologen fest: Pluto-Uranus bringe Durchbrüche, Aufbrüche, Rebellion gegen erstarrte Strukturen. Das kann heißen „weg von zuhaus“ oder „endlich wieder heim“ – je nach Vorgeschichte. Lange Unterdrücktes kommt auf den Tisch, alte Konflikte haben Chancen, sich zu lösen. Nord-Irland und Tibet haben blutig darum gekämpft, Quebec verpasste kürzlich die Chance für ein legales Referendum knapp. Bayern wartet einfach ab – und Moritzberg ist auch nach 103 Jahren Eingemeindung noch nicht ganz ruhig gestellt.
Putin
Foto: Presse- und Informationsamt des russischen Präsidenten
Eine kleine Voraussetzung für den Erfolg brauchen die Freiheitsdurstigen: einen Schutzherrn, einen Rettungsschirm, unter den sie sich flüchten können. Einen, der sie zumindest rhetorisch deckt und ihnen moralisch den Rücken stärkt. Im Mittelalter, in der Nachbarschaft vieler Territorialherrscher, war es leichter, einen neuen Schirmherrn zu finden. Das Moritzstift konnte sich durchaus – mit dem Hildesheimer Bischof unzufrieden – unter braunschweigischen Schutz flüchten. Am Trockenen Kamp brauchte man nur über den Graben am Waldrand zu springen – schon war man im Ausland und vor hildesheimschen Soldaten geschützt: Marienrode hatte sich unter Calenberger Schutz begeben und war damit eine Insel im Hochstift Hildesheim.

Eine zweite Macht ist nötig, um die Trennungen, die staatlichen Umzüge, die Selbständigkeiten möglich zu machen. Der römische Papst ist für diese Seite der Welt eher nicht zuständig. Eine zentrale Weltregierung wäre der Tod für „separatistische“ Bestrebungen, jedes Monopol fühlt sich durch Abspaltungen bedroht. Gute Chancen, ein Schirmherr zu werden, hat der russische Präsident Vladimir Putin. Er gewinnt an Glaubwürdigkeit, seitdem er Kritiker wie Chodorkovski freigelassen hat. Putin bringt Verständnis für die Rolle als Schutzherr mit: Zwei Pole braucht die Welt nach seinem Konzept, damit Entwicklung möglich ist. Wo hätte Edward Snowden unterschlüpfen können, wenn nicht in Russland? Gäbe es keine zweite Macht, kein eigenständiges Ausland, keine starke Alternative, wohin könnte man sich vor den Drohnen flüchten, wo dem Abhörwahn – zumindest theoretisch – entkommen?

Wie jemals hätten die Kolonien sich befreien können, wäre nicht das Taktieren möglich gewesen zwischen der einen und der anderen Großmacht. Das heißt nicht, dass „kalter Krieg“ herrschen muss, auch gute Ehen bieten diese Chance. Spielräume zu nutzen lernt jedes Kind, wenn Papa und Mama – natürlicherweise – nicht ständig einer Meinung sind. Das „Bipolare“ ist ein Schutz, es beugt Eingleisigkeit vor, schafft Verständnis dafür, dass verschiedene Wege zum Ziel führen.

„Putin, hilf“, forderte im Scherz Ende März ein Kommentator in der Tagespresse – dabei ging es nur um die einheimischen Zwerggänse und die Vorliebe des Kreml-Chefs für den Naturschutz, für Kraniche und Amur-Tiger. Reservate schaffen, Spielräume erweitern – das hilft auch gegen Ungleichheit zwischen Menschen und zwischen Ländern. Putins Perspektive für die Welt ist die weitsichtigere – im Ernst. In der Spannung zwischen zwei Großmächten kann sich auch ein Dritter und ein Vierter entwickeln. Vielfalt ist dadurch nicht garantiert, aber sie wird möglich.

Vladimir Putin – und jedem anderen Schirmherrn – sei Dank, wenn sie Alternativen zulassen. Für Moritzberg kommt die Chance zum Umzug ein bisschen spät – sollte es sich nun, wo das Phoenixquartier floriert, wieder nach Braunschweig, nach Goslar oder gar nach Moskau wenden (natürlich mit den Steuereinnahmen)? Oder ist es eher zu früh? Warten wir ab, wie die Welt sich neu sortiert, welche Lücken und Spielräume bleiben – und was darin Neues wachsen kann.
Sabine Brand
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